Kurze Einleitung: Der erste Gastbeitrag eines Triathleten, der gerne Anonym bleiben möchte. Das Thema Essstörung im Triathlon oder generell im Sport ist ein noch recht unbelichtetes. Wenn ihr selbst Erfahrungen mit diesem Thema habt und darüber reden möchtet, kommentiert gerne unter diesem Artikel. Nur wenn man über seine Probleme (und die Lösungen, die man vielleicht schon gefunden hat) redet, hilft man auch anderen damit. Nehmt euch die Zeit und lest den etwas längeren Erfahrungsbericht bis zum Ende. Es lohnt sich. Daniel
Triathlon unter der Zusatzbelastung einer Essstörung – das auf und ab in der Gefühlsachterbahn
Ich möchte mit meinen ersten, jemals geschriebenen Blogbeitrag Aufmerksamkeit auf eine Thematik lenken die mir persönlich als Betroffener wichtig ist – Essstörungen. Meiner Meinung nach wird diesem Thema noch zu wenig Beachtung geschenkt, obwohl es zuletzt häufiger Veröffentlichungen gab. Es ist ein Tabuthema. Ich bin der Ansicht, dass sich einige Menschen, gerade in der Triathlonszene überhaupt nicht bewusst darüber sind, dass sie unter einer Essstörung leiden bzw. drauf und dran sind eine zu entwickeln. Denn das Ideal bei uns ist natürlich einen schnellen, athletischen & definiteren Körper an die Startlinie zu bringen.
Mein Ziel ist es zu zeigen was ich körperlich, seelisch und psychisch im Verlauf einer Saison durchmache, um bei euch ein besseres Bewusstsein über das Thema Essstörungen zu schaffen. Nicht aus wissenschaftlicher, sondern aus persönlicher Sicht – „Was durchlebt jemand gefühlstechnisch mit einer Essstörung im Triathlon?“
Mein Ursprung:
Ich war mein ganzes Leben lang übergewichtig – anders gesagt stark adipös. Das es überhaupt dazu kommen konnte war eine Reihe & das Zusammenspiel mehrerer Fehler meiner Kindheit / Jugend. Ich habe auf 1,85m maximal 143,5 kg gewogen. Dann habe ich die Reißleine gezogen. Zurerst mit der Low-Carb später mit der der Ketogenen-Diät (welche ich nach heutigem Erfahrungs- und Wissensstand niemanden mehr empfehlen würde) und sehr viel Kraftsport habe ich innerhalb eines Jahres über 55 kg abgenommen und wog vor Weihnachten 2013 nur noch 87 Kilo. Die Anerkennung der Familie, von Freunden und Bekannten war währenddessen ein stetiger Begleiter. Es hat sich einfach sehr gut angefühlt, als neuer Mensch wahrgenommen zu werden. Nach einem Jahr strikter Diät hielt ich es für eine gute Idee eine Diätpause einzulegen und die Feiertage richtig zu genießen. Neujahr stieg ich dann erstmalig wieder auf die Waage und erlebt eine Schockstarre – da standen die Ziffern 105 kg. Ich bin ein emotionaler Mensch, aber so einen Heulkrampf / Zusammenbruch habe ich zuvor nie erlebt. Innerhalb von zwei Wochen habe ich fast 20 Kilo zugenommen!
Mir ist auch zu dem Zeitpunkt bewusst gewesen, dass das nicht alles reine Fettmasse war, da der Körper bei einer Ketogenen-Diät „trocken“ gelegt wird, aber folglich bin ich in ein Motivationsloch gefallen. Ich wollte mich immer wieder aufraffen und zurück zu meinem Zielgewicht, aber irgendwie saß der Schmerz zu tief. Ich habe danach weniger das Studio aufgesucht und die Ernährung schleifen lassen, sodass ich langsam, aber stetig wieder zunahm.
„Die Übergangsphase“:
Ich habe sogar soviel wieder zugenommen, dass fast mein gesamter Diäterfolg für die Katz war. Dennoch habe ich es irgendwann geschafft mich aufzurichten und wieder zum Sport zu gehen und wieder abzunehmen. Ich habe angefangen wissenschaftliche Artikel zu lesen und mich mehr mit meinem Körper und den verschiedenen Ernährungsformen zu beschäftigen. Schließlich landete ich bei der High-Carb-Low-Fat Diät. Im Zeitraum von 2013-2015, welche ich mal „die Übergangsphase“ nenne, habe ich auch angefangen mein Essen zu tracken, sprich Kalorien zu zählen. Jeder Tropfen Öl, jedes Gramm Gemüse, ja sogar Tee (ich weiß selbst, wie absurd das ist), musste gewogen, und in meiner App dokumentiert werden. Im Nachhinein einer der größten Fehler meiner „Ernährungslaufbahn“. Zudem hat sich der Sonntagmorgen als mein „Wiegetag“ etabliert. Dort habe ich mein Gewicht und meine Körpermaße von Bauch, Brust, Hüfte, Oberschenkel dokumentiert. Es gab mir Kontrolle, und auch Bestätigung, wenn ich am Ende einer Woche wieder ein Kilo verloren habe. Es ist hilfreich es für ein paar Wochen zu machen, um sich ein Bewusstsein darüber zu schaffen, welche Kaloriendichte welches Lebensmittel besitzt. Aber das war auch der Zeitraum, in dem mein Essverhalten zwanghaft wurde. Essen gehen mit Freunden, gemeinsames Essen mit der Familie waren Fehlanzeige – ich habe für mich gekocht und alleine gegessen. Ich habe es trotzdem geschafft mein Gewicht wieder bei 90 kg einzupendeln obwohl es zwischenzeitlich wieder Amplituden im Gewichtsverlauf von bis zu +/- 15 kg gab.
Erster Kontakt und Gefallen an Ausdauersport und das nächste Tief:
Beim Kraftsport habe ich mich meistens auf dem Rad oder auf dem Laufband warm gemacht – aber nie länger als 10 Minuten. Irgendwann fiel es mir immer leicht länger und schneller zu laufen und ich habe Gefallen daran gefunden, sodass ich in 2016 zwei Halbmarathons gelaufen bin. Danach war die strickte Zeit der Diät und des Trainings von einen auf den anderen Tag vorbei – ähnlich wie Weihnachten 2013. Ich habe wieder alles in mich reingeschaufelt was ich in die Hände bekommen habe. Aus Fehlern gelernt? Fehlanzeige! Oder habe ich da keine Kontrolle drüber?
Ich habe wieder zugenommen war zwischenzeitlich wieder über 120 kg. Ich habe mich selbst dafür gehasst und wusste einfach keinen Ausweg. Teilweise bin ich nach Feierabend einfach in den Supermarkt und habe mir schnell zugängliches, ungesundes Essen gekauft, statt einfach zu Hause gesund zu kochen. Ich war einfach wieder in meinem Tief, was sich natürlich auch auf die Stimmung und den Alltag ausgewirkt hat. Freunde haben dies erkannt und mal vorsichtig gefragt was los sei – ich habe es irgendwie heruntergespielt. Ich war schlecht drauf, irgendwie immer traurig, und auch schnell reizbar. Monatelang kann ich diszipliniert trainieren und essen, und an Tag X ist alles vorbei und ich verfalle in meine Esssucht. Es war teilweise ein regelmäßiger innerer Kampf zwischen „Esse ich heute gesund“ oder „ich mache morgen weiter“. Häufig habe ich diesen Kampf zugunsten eines Essanfalls verloren.
Ohne zu ausführlich zu werden – es gab wieder die Gewichtsausschläge im Verlauf, leider halt mit +/- 15-20 kg und nicht mit 5 kg. Ihr merkt wahrscheinlich früher als ich – irgendwas stimmt hier nicht!
Dennoch habe ich es geschafft im August 2018 mein erstes 100 km Radrennen in einer wirklich soliden Zeit (mit knapp 90 kg Körpergewicht) zu fahren. Und das obwohl ich erst im Mai dieses Jahres zum ersten Mal auf meinem alten Felt saß. Die Kraftsportkomponente wurde anteilig weniger Betrieben dafür gingen die Anzahl der Rad- und Laufsessions in die Höhe
Mein Weg zum Triathlon:
Wie viele bin ich vom Laufen, über das Radfahren letzten endlich beim Triathlon gelandet. Ein Freund, der diesen Sport betreibt hat mich im Oktober 2018 so heiß drauf gemacht, dass ich von einem auf den anderen Tag mit Fußball aufgehört habe (ein Sport den ich als Spieler und Fan seit meinem ca. 6 Lebensjahr geliebt habe). Fußball hat mir zu dieser Zeit meines Lebens immer weniger Spaß bereitet, somit ist mir diese Entscheidung nicht schwer gefallen. Ich habe mich im Triathlonverein angemeldet, lernte das Kraulen dank hervorragender Schwimmtrainern relativ schnell neu und bin ich einem großartigem Kreis von Leuten aufgenommen worden. Intervalle auf der Bahn unter Beobachtung von langjährig, erfahrenen Lauftrainern welche immer wieder Tipps geben waren einfach der ultimative Kick und die Leistungskurve ging schnell nach oben. Anfang 2019 meldete ich mich direkt für meine Prämieren auf der Sprintdistanz, der olympischen Distanz und für eine Mitteldistanz im September an. Die Ziele waren gesteckt und ich trainierte wie ein Besessener. Um während meines dualen Maschinenbaustudiums mein Pensum zu schaffen bin ich zu Uniphasen immer früh aufstanden, habe ausgiebig gefrühstückt und mein Essen für die Mittagspause vorbereitet. Natürlich alle Kalorien gezählt – Kantinenessen war keine Option für mich, um mich optimal zu versorgen. Wenn ich betriebliche Praxisphasen hatte bin ich noch früher aufgestanden, teilweise um 3:30 Uhr um zu frühstücken, Mittag vorzubereiten, dank Gleitzeit einer der ersten im Büro zu sein. Demnach war ich auch einer der ersten der gehen konnte, was mir natürlich in die Karten spielte sollten noch zwei Einheiten auf dem Zettel stehen. Schlaf kam in dieser Zeit zu kurz, 5 bis maximal 6 Stunden waren normal. Ich bin aber damit klar gekommen. Abends zu Hause angekommen gab es dann meine Hauptmahlzeit. Meistens ein Wok mit Reis oder Nudeln, sehr viel Gemüse und von der Menge locker so viel, dass zwei Leute davon satt hätten werden können. Essen war für mich in dieser Zeit nur noch Mittel zum Zweck. Die Makros und Kalorien sollten stimmen, alles andere war egal. Zwar hat mir mein Essen immer geschmeckt, doch es war nicht viel Abwechslung dabei und ich verlor den Genussaspekt den gutes Essen eigentlich mitbringen sollte. Ich machte weiter Diät, je leichter desto schneller. Es lief ganz gut, wenn sich nicht meine Essstörung wieder bemerkbar gemacht hätte. Und zwar heftiger denn je – in regelrechten Fressanfällen.
Ich bin beispielsweise sonntags aufgestanden und mein Kopf hat mir gesagt „heute gönnst du dir richtig“, oder „einmal ist keinmal“, „das hast du dir verdient“. Ich konnte diesem Verlangen nichts entgegensetzten. Also gönnte ich mir. Das ging los mit 4 Brötchen zum Frühstück, einer riesen Schüssel Cornflakes, danach den ersten Schokoriegel. Über den Tag verteilt dann noch Kekse, Gebäck und Kuchen, Haribos Schokolade. Schätzungsweise 8000-10000 Kalorien gingen an so einem Tag problemlos in meinen Körper. Wenn am Nachmittag dann das Feedback vom Magen kommt „es reicht – deine Innereinen können nicht mehr“ und die Eltern der Freundin dich noch zum Italiener einladen, und du nicht nein sagen kannst und ich mir dann noch eine Pizza reindrücke – dann hatte ich endgültig verloren. Ich habe mich abends dafür gehasst, was ich am Tag veranstaltet habe. Um dem ganzen noch die Krone aufzusetzen habe ich mich schlauerweise abends noch auf die Waage gestellt. Es gab Tag da wog ich Sonntagmorgen 87 Kilo und Abends 97. +10 Kilo in knappen 12-14 Stunden. Auch hier wieder: nicht alles reine Fettmasse, der trockene Körper hat Wasser gezogen, und noch viel unverdautes Nettogewicht, aber dennoch war es Grund genug für einen Heulkrampf und Selbsthass. „Wieso tue ich mir das an?“. Ich wusste nicht mehr wo oben und unten ist und hatte das Gefühl, dass ich komplett die Kontrolle über mein Handeln verliere. Wieso schaffe ich es wochen- und monatelang diszipliniert zu sein und dann explodiert es in einer Fressattacke.
Da ich aber explizite Wettkämpfe vor Augen hatte, gab es diese Attacken nur noch über einen Tag, und nicht über mehrere Tage oder Wochen hinweg – und sie blieben glücklicherweise selten. Ich konnte Montag dort weitermachen wo ich Samstagabend aufgehört hatte. Das war der einzige positive Aspekt dabei. Die Attacken hatten unterschiedliche Gründe. Ich verletzte mich leicht in der Vorbereitung für meinen ersten Marathon im April 2019 und nahm die Frust über die einwöchige Zwangspause als Grund um einer Fressattacke nachzugeben. Den Marathon bin ich trotzdem gelaufen. Manchmal kam es einfach so über mich, und ich wünschte ich könnte die Gründe benennen – kann ich aber nicht. Und ich habe es nicht einmal geschafft mich dem Verlangen zu widersetzen. Ich erinnere mich an eine Situation, bei der ich ein Neo-Testschwimmen absagen wollte, weil ich wieder einer Fressattacke unterlag und dachte, dass ich nicht in meine Wunschgröße passe. Es entwickelte sich ein völlig gestörtes Körpergefühl. Lange zeit schön definiert, teilweise adrig und dann „bläht“ man seinen Körper mit einem Fressanfall auf und sieht aus wie ein nasser Schwamm. Das war das pure Schamgefühl.
Mein erster Triathlon – OD im Mai 2019:
Da war er – Tag X. Mein erster Triathlon. Beim Schwimmen etwas übernommen, liefen Radfahren und Laufen danach wirklich gut für mich – ich habe sogar einen neuen 10k PR aufgestellt. Und das Gefühl die Ziellinie zu überqueren war so überwältigend, dass ich kaum stehen konnte – vielleicht auch weil die Beine sich auf einmal wie Sandsäcke anfühlten. Zu dem Zeitpunkt war mir bewusst „Das ist es“ – den Sport möchte ich für den Rest meines Lebens machen.
Der Erfolg musste gefeiert werden. Wie kann es anders sein als mit Essen. Fressflash direkt auf dem Heimweg, und er hielt auch noch den Montag und den Dienstag an. Ich dachte, ich hätte es mir verdient. Wieder war ich aufgebläht. Ich erkannte das ich ein riesiges Problem habe und recherchierte.
Binge-Eating Disorder – Latente Esssucht:
Nach Eigendiagnose habe ich festgestellt, dass ich vermutlich unter der Binge-Eating Disorder leide. Die typischen Anzeichen und Symptome dieser Essstörung passten bei mir wie die Faust aufs Auge. Darunter fallen Kontrollverlust, schnelles essen oder schlingen, essen bis es „wehtut“, essen ohne Hungergefühl, Alleine essen aus Scham oder Verlegenheit – und danach Ekel vor sich selbst, Selbsthass und Zweifel an der eigenen Person. Ich wusste ich brauche Hilfe.
Ich weiß, dass zu viel Essen im Ausdauersport eher die Seltenheit darstellt, weil Übergewicht eigentlich nicht zu den Problemen im ambitionierten Ausdauersport gehört. Hier würde man tendenziell als erstes an Magersucht oder an Ess-Brech-Sucht denken. Dennoch ist es eine klassifizierte Esssucht, und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich der einzige bin, der damit zu hadern hat Als ich in Erfahrung brachte wie schwer es ist als Kassenpatient einen Therapieplatz zu bekommen habe ich den Kopf nicht in den Sand gesteckt. Ich wollte diese Belastung in meinem Leben bekämpfen. Somit habe ich über 20 Therapeutinnen und Therapeuten in meinem Umfeld per Mail kontaktiert. Ich habe mich vorgestellt, ein wenig über meine Vergangenheit berichtet und meine aktuelle Lage beschrieben. Von 10 erhielt ich bis heute keine Rückmeldung, 7 haben freundlich abgesagt, weil sie ausgelastet sind und bei dreien durfte ich tatsächlich für ein Erstgespräch vorstellig werden. Der erste Schritt ist getan. Direkt bei der ersten Therapeutin hat es gepasst. Sie konnte mir zwar noch keinen Therapieplatz anbieten, aber sie hat mir in regelmäßigen Abständen ihre freien Terminslots zur Verfügung gestellt. Ich springe in der Zeitschleife voraus – im Dezember hatte ich meinen Therapieplatz für eine Langzeittherapie mit 60 Sitzungen. Es geht darum zu ergründen, was diese Anfälle auslöst – und das dauert seine Zeit. Ich lag falsch der Annahme, dass die Essstörung nach der Therapie verschwunden sein wird, es geht vielmehr darum sie zu kontrollieren, bis sie kein Teil mehr von meinem Leben sein werden. Es hilft darüber zu sprechen, es hilft die Gedanken in diesem Blog zusammenzufassen.
Zeit bis zum Saisonhighlight: 70.3 im September
Die Vorbereitung lief bis auf die Fressanfälle hervorragend. Nur bewegte ich mich somit beinahe wochenweise in einem Wechsel zwischen zunehmen und Diät. Ich trainierte dauerhaft in einem Energiedefizit und mir war klar, dass deshalb auch die erwünschten großen Leistungssprünge ausblieben. Dennoch wurde ich immer schneller und erzielte gute Trainingserfolge. Wenn ich daran denke was möglich gewesen wäre, wenn ich kalorisch ausgeglichen trainiert hätte schmerzt es. An intensiven Tagen habe ich über 5000 Kalorien verbrannt, aber nur ca. 3500 zu mir genommen – gut für die Diät, schlecht für den Körper und die Leistungen
Soziale Kontakte außerhalb der Uni / Arbeit, meinen Vereinskollegen und meiner Freundin, mit der ich eine Fernbeziehung führe, sind Mangelware. Die Zeit mit ihr am Wochenende gab mir immer wieder Kraft, Entlassung und Halt. Das Training und die Ernährung hatten oberste Priorität. Des Weiteren führte mein gestörtes Körpergefühl dazu, dass ich auch mal ein Vereinsschwimmtraining hab sausen lassen. Nach einer Essattacke war ich aufgebläht, das hat man meinem Körper auch angesehen. Die Bauchmuskeln haben nicht mehr durchgedrückt und es war ein kleines Bäuchlein da. Die Vereinskollegen merken das sofort. Auch wenn Sie nichts sagen und es überhaupt nicht böse meinen – Blicke können wehtun. Ungern gibt man sich die Blöße und zeigt, dass man „schwach“ war zwischen den ganzen disziplinierten und austrainierten Vereinskollegen. Somit bin ich dann lieber mal für mich alleine schwimmen gegangen. Andererseits führte es soweit, dass man zum Grillen oder zu Partys von Freunden kaum noch eingeladen wird, weil man es in letzter Zeit sowieso immer abgesagt hat. Training am Samstag morgen um 6 hatte eben Vorrang. Die Anerkennung für mein Pensum war natürlich da, und alle hatten Respekt und Verständnis. Dennoch habe ich mich mit einigen wichtigen Personen auseinandergelebt, mit denen vorher doch intensiven Kontakt gepflegt habe.
Dann kam mein Testwettkampf – mein erster Sprint. Überragend für mich. 20. Platz von über 327 Athleten neuer 5k PR im Laufen. Ich war bereit für meine erste Mitteldistanz. Am Morgen meines ersten Ironman 70.3 habe ich 87 Kilo gewogen und war richtig heiß. Es lief optimal und alles wie geplant. Was ein Gefühl die Ziellinie zu überqueren. Die Freundin nimmt einen in Arm und es fällt eine riesige Last von den Schultern. Jeder von euch kennt es und es ist eine ganz individuelle Sache. Es ist eine Sucht entstanden, ich wusste sofort: ich will mehr! Es ist so ein enormer Erfolg und man „stolziert“ quasi die Wochen danach nur noch mit breiter Brust und breitem Grinsen durch die Gegend.
Dennoch kam danach wieder das bekannte „Gönner-Tief“ zum Vorschein. In der Zeit nach der 70.3 habe ich sehr viel Ungesundes gegessen, was mir die Wochen und Monate zuvor verwehrt blieb. Ich nahm schnell wieder zu und war Ende November, also nur knapp 10 Wochen danach wieder bei 105 Kilo (+18 Kilo in so kurzer Zeit!). Ich hätte ja nichts gegen die klassischen 5 Kilo extra in der Off-Season – aber gleich immer so viel? Für den Moment fühlt es sich gut an so viel Essen in sich reinzuschaufeln, aber die depressive Phase kickt danach umso härter rein. Aber ich habe es wieder geschafft mich aufzuraffen – wie so oft.
Die Therapie:
Mein Ziel ist es dem Verlangen nach Essen in jeder Situation standhaft bleiben zu können. Dazu wird in der Therapie tief gegraben, teilweise bis in die Kindheit und Jugend hinein. Es werden Konzepte entwickelt, wieder ein gesundes Körpergefühl zu entwickeln und Essen wieder als Genuss zu Empfinden und nicht als „Mittel zum Zweck“. Das Kalorienzählen wird der Vergangenheit angehören. Und ich kann euch sagen – es hilft. Auch wenn man nach 10 Sitzungen noch keine direkten Erfolge sehen kann, es ist ein Prozess. Vergleichbar mit dem seinen Körper in den Wettkampfmodus zu trimmen. Man muss diesen Schritt nur gehen, und das ist vielleicht der schwerste. Sich einer fremden Person komplett zu öffnen, seine tiefsten Gefühle preiszugeben und wirklich keinerlei Dinge zu verschweigen. Ich gehe manchmal aus einer Sitzung raus und habe das Gefühl es hat sich ein Knoten gelöst – ein riesen Druckabfall. Es ist ein tolles Gefühl denn diese kleinen Zwischenerfolge sind es, die einen weiter daran festhalten lassen, dass die Therapie der richtige Schritt war. Therapeuten leisten Weltklasse Arbeit und wir können uns glücklich schätzen, dass es Menschen gibt, die diese Wissenschaft beherrschen. Denn es gibt noch deutlich dramatischere Dinge, die therapiert werden müssen. Zudem konnte ich schon Einblicke in die Sportpsychologie gewinnen. Ebenfalls ein sehr interessantes Wissenschaftsgebiet, denn der Kopf trägt einen nicht unerheblichen Teil dazu bei ob aus einem Start ein DNF oder ein Finish, oder sogar der AK-Sieg wird.
Ich habe mir sportlich für die Zukunft viel vorgenommen – ich möchte meine Ziele erreichen und werde alles mögliche dafür tun. Und dazu hat nun die oberste Priorität mein Essverhalten wieder zu normalisieren, Essen genießen zu können und nicht mehr von einem ins andere Extrem zu rutschen.
Mein Appell:
Appell ist vielleicht doch der falsche Begriff, denn ich möchte niemanden zu etwas „zwingen“ was er nicht möchte. Aber solltet ihr merken, dass ihr selbst, eure Mitmenschen oder Vereinskollegen, ein ungesundes Verhältnis zu der Thematik Ernährung pflegen – sprecht sie an oder sucht euch Hilfe. Es muss nicht immer direkt eine Essstörung vorliegen, man kann aber sehr leicht im ambitionierten Leistungssport eine entwickeln. Wenn ihr Sorge habt, dass ihr Betroffen seid geht den Weg zu einem Therapeuten. Im bestenfalls ist überhaupt nichts los – andererseits bekommt die beste Hilfe, die ihr bekommen könnt. Die folgenden Alarmzeichen können Anzeichen für eine Essstörung sein:
- Wenn sich eure Gedanken nur noch Essen, Gewicht und Kalorien und der Angst vor Gewichtszunahme drehen
- Soziale Kontakte werden vernachlässigt
- Gestörte Wahrnehmung des Körpers (z.B. ein kleines Bäuchlein dazu führt, dass ihr euren Köper nicht mehr schätzt und hasst)
- Kontrollierte Nahrungsaufnahme durch tracken
- Wenn ihr nur noch alleine esst und Einladungen von Freunden ausweicht
- Wenn ihr ein schlechtes Gewissen habt, wenn ihr etwas Ungesundes gegessen habt
Ich weiß, dass ich ausführlich war und eventuell auch zu weit ausgeholt habe. Vielleicht habt ihr nicht bis hier hin gelesen. Aber ich wollte etwas Bewusstsein dafür schaffen, dass ihr seht was in meinem Inneren vor sich geht, wenn man ein gestörtes Essverhalten hat.
Danke auch an Daniel, dass er mir die Möglichkeit dazu gegeben hat seine Plattform für meine Gedankengänge und Erfahrungen zur Verfügung zu stellen.