[ Zurück aus der kleinen Sommerpause gehts direkt in die nächste(n) Runde(n) der Reihe #nichtimmereasy“. Carmen schreibt über das Thema Sportsucht, über ihre eigenen Erfahrungen und ihre Mittel und Wege die Sucht in den Griff zu bekommen. Vielen Dank für den tollen Artikel und dein Vertrauen, liebe Carmen. Und euch vielen Dank fürs dran bleiben. Die Reihe wird auf jeden Fall fortgeführt. Ihr seid die Coolsten! Daniel✌️]
Läufer, Radfahrer und Triathleten sind bekannt dafür, dass sie viel trainieren. Sie sind bekannt dafür, sehr diszipliniert, teilweise auch sehr hart mit sich selbst zu sein und ein hohes Trainingspensum abzuspulen. Das vielleicht nicht ganz so sportliche Umfeld der Athleten und Athletinnen kann das oft nicht nachvollziehen. Doch der Leistungsdruck ist auch im Amateurbereich groß. Wenn man gut sein möchte, muss man viel trainieren und auch investieren. Da kann es schnell passieren, dass das vermeintliche Hobby, das ja eigentlich eine Bereicherung fürs Leben sein soll (die allermeisten von uns sind Amateurathleten und verdienen damit kein Geld), zur Pflichtaufgabe wird und in Stress ausartet.
Solange dies alles temporär geschieht und man weiß, wofür man das tut (beispielsweise für einen bestimmten Zielwettkampf), ist das völlig ok und im Triathlon auch notwendig.
Doch was ist, wenn es ohne den Sport nicht mehr geht? Was ist, wenn es immer höher, schneller, weiter sein muss, weil der Standard nicht mehr ausreicht? Was ist, wenn ich ohne meine Dosis Sport reizbar, depressiv, ängstlich oder unsicher werde? Was ist, wenn ich mich insgeheim über den Sport definiere und dies alles in Leben darstellt? Selbst bei Verletzungen oder in der Saisonpause gönne ich mir keine Ruhe und schaffe es nicht, das Training runterzufahren? Was ist, wenn der Sport zum Zwang wird oder Konflikte mit dem beruflichen oder privaten Umfeld entstehen? Was ist, wenn ohne permanenten Sport Entzugserscheinungen psychischer Art auftreten?
In der Wissenschaft spricht man dann von einer Sportsucht.
Eine hohe Sportbindung, die gesund und für bestimmte Dinge auch notwendig ist, kann ebenso einen Großteil der oben genannten Symptome aufweisen. Ebenso muss zwischen einer potenziellen Gefährdung von Sportsucht und einer manifesten Störung unterschieden werden. Der Unterschied besteht im Grad der Abhängigkeit, der dadurch entstehenden Konflikte und in der Zwanghaftigkeit zum Sport. Eine Sportsucht kann in jeder Sportart vorkommen. Nicht selten geht sie einher mit zwanghaftem Essverhalten, übertriebenem Kalorienzählen und dem Blick auf das eigene Körperbild. Auf diese Themen möchte ich an dieser Stelle jedoch nicht weiter eingehen.
Häufig verbergen sich hinter einer Sportsucht jedoch ganz andere Probleme, die gar nichts mit Sport an sich zu tun haben. Vielleicht ist der Sport nur eine Kompensationsstrategie für etwas anderes im Leben? Vielleicht bin ich unglücklich mit der privaten Situation zu Hause? Vielleicht bin ich auch unglücklich im Job und muss mich dann im Sport so richtig ausleben? Eventuell gab es auch einen schlimmen Rückschlag zu verkraften, beispielsweise den Tod eines geliebten Menschen, eine Krankheit oder eine Kündigung? Um den Schmerz oder die Leere nicht zu spüren, eignet sich der Sport ganz hervorragend als Bewältigungsstrategie aber auch als Betäubungsstrategie. Vielleicht leide ich aber auch unter einem mangelnden Selbstwertgefühl und glaube tief im Inneren, nicht zu genügen? Ich muss mir selbst beweisen, etwas wert zu sein. Das erreiche ich am besten damit, eine noch schnellere Bestzeit und einen noch härteren Wettkampf zu meistern!
Die Crux ist nur, dass das eigentliche Problem nicht gelöst wird, wenn man sich nicht damit auseinandersetzt, sondern es nur überdeckt. Im Gegenteil, das ist gefährlich. Gedanken und Gefühle können sich negativieren, wenn sie keinen Raum bekommen oder man gefährdet die eigene Gesundheit auf der anderen Seite.
Eine Studie von Ziemanz et al. (2012) besagt, dass ca. 4,5% der untersuchten Triathleten von Sportsucht betroffen sind. Eine Studie von Griffiths et al. (2015) besagt, 20% der untersuchten Athleten seien durch Sportsucht gefährdet.
Warum schreibe ich das? Warum habe ich mich mit dem Thema beschäftig? Ganz ehrlich, weil ich mich eines Tages ertappt habe, wie ich genau so einen Automatismus lebte. Vielleicht nicht in allen Ausprägungen und allen Extremen wie gerade beschrieben. Ich wollte jedoch verschiedene Aspekte reinpacken, da ja nicht jeder so ist wie ich. Das Grundproblem bleibt aber trotzdem das gleiche.
Es war die Zeit zwischen 2014-2016. Ich war sowohl mit meiner privaten, örtlichen als auch mit meiner beruflichen Situation unzufrieden. Insgeheim fühlte ich mich während dieser Zeit sehr verloren und wünschte mir Veränderung. Anstatt mich aber hinzusetzen und mir ein Konzept zu entwerfen, wie ich mein Leben verändern könnte, kompensierte ich das alles mit Sport. Ich bin schon seit der frühen Jugend gelaufen. Im Studium kam dann das Radfahren dazu. Nach dem Studium, während meines ersten Jobs ging ich dann immer häufiger ins Schwimmbad, um kraulen zu lernen. Und damals spielte ich ja noch 3x die Woche Fußball im Verein, wie ich es seit meiner Kindheit tat. Und wenn ich nicht am Arbeiten oder Sport machen war, dann plante ich tolle Reisen und bildete mir ein, jeden Wasserfall und jede Burg anschauen zu müssen. So lebte ich mehrere Jahre lang. Den Höhepunkt erreichte das ganze sicherlich, als ich mich entschied, meinen Job zu kündigen und mit dem Fahrrad durch Neuseeland zu fahren. Damals bekam ich viel Respekt, Anerkennung und ermutigende Worte für diese Entscheidung. Und ich glaubte selbst auch, das Richtige zu tun. Meine Familie wusste, dass das eigentlich eine Flucht vor mir selbst war, aber ich hörte nicht hin. Der Höhepunkt dauerte ein weiteres ganzes Jahr. Ich hatte Spaß und eine unbeschwerte Zeit in Neuseeland, aber ich musste mich ja auch nicht mit den ernsthaften Dingen des Lebens auseinandersetzen. Hätte ich mich dort niedergelassen, wären die gleichen Probleme und Fragen irgendwann zurückgekommen. Wer bin ich eigentlich? Welche Werte sind mir wichtig und welche Inhalte möchte ich in meinem Leben haben?
Der tiefe Fall kam erst, als ich im Dezember 2017 wieder nach Deutschland zurückkehrte. Mein Visum war ausgelaufen. Es war Winter, ich hatte keinen Job, war frisch getrennt und wohnte im Kinderzimmer bei meinen Eltern. Die Einsicht für meine verkorkste Situation kam schlagartig, als ich ein Radiointerview von einer Psychologin hörte, die etwas von einem mangelnden Selbstwertgefühl faselte. Damit triggerte sie etwas in mir und ich verstand, dass die Lösung für das Problem nicht im Außen liegt (auch nicht in Neuseeland und auch nicht im Sport), sondern in mir drin. Ganz plötzlich hatte ich ein ganz kleines Ego und musste mir eingestehen, dass mein Leben nicht so toll war, wie ich immer dachte. Das ganze Ausmaß der Situation wurde mir jedoch erst in den Wochen und Monaten nach meiner Einsicht bewusst, als ich anfing, meinen emotionalen Keller aufzuräumen. Bis heute lerne ich täglich dazu. (Diese Situation mag auf ihre eigene Art und Weise extrem klingen. War sie auch. Aber es sind auch die Situationen, aus denen ich am meisten lerne, im positiven wie im negativen.)
Zurück zum Sport: ich fing wieder mit Triathlon an. Vor Neuseeland hatte ich da Luft geschnuppert und wusste, das will ich weiter machen. Das Fußballspielen ließ ich aber sein. Sportsucht ist eine substanzunabhängige Verhaltenssucht (genauso wie Kaufsucht oder Spielsucht). Das Gute an dieser Art von Sucht ist, dass man sie nicht radikal aus dem Leben streichen muss. Es geht vielmehr darum, ein Bewusstsein zu entwickeln und eine gesunde Balance zu finden.
Zum ersten Mal hatte ich einen Trainer, beschäftigte mich ernsthaft mit Trainingslehre und steckte mir konkrete Ziele, auf die ich hinarbeiten wollte. Die Erfolge kamen schnell. Meine Zeiten verbesserten sich enorm, ich arbeitete mich innerhalb von 1,5 Jahren vor bis zur Mitteldistanz und war stolz auf mich. Tatsächlich war es auch so, dass mir der Sport in Zeiten völliger Unsicherheit etwas Struktur und eine Aufgabe gab. Ich habe heute ein viel besseres Körpergefühl als früher und mit der Erfahrung kommt die Sicherheit.
Seit Anfang des Jahres 2018 nehme ich mir immer wieder Zeit für mich und reflektiere, WARUM ich Sport und auch Triathlon mache. Trotzdem ertappe ich mich auch heute noch, wenn ich in alte Muster zurückfalle. Zum einen ist Triathlon immer eine Gratwanderung. Zum anderen braucht Veränderung schlicht und ergreifend Zeit und Übung. Ein Schlüsselbeinbruch und eine Verletzungspause nach einem Radunfall dieses Jahr (2020) haben mir dies noch einmal deutlich vor Augen geführt. Auch wenn die Gründe diesmal andere waren, war ich wieder über meinem Limit. In der Verletzungspause zu Hause habe ich immer wieder reflektiert und aufgeschrieben. Tatsächlich war es auch erst in dieser Zeit, als ich den berühmten Satz verstand: Triathlon ist die schönste Nebensache der Welt.
Schwimmen, Radfahren und Laufen wird immer in mein Leben gehören, ob wettkampfmäßig oder freizeitmäßig. Ich bin ein Bewegungstier, ich liebe es und brauche es, wie die Luft zum Atmen. Ich liebe das Freiheitsgefühl, das mir dieser Sport vermittelt. Der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass ich heute weiß, dass der Sport und auch der Triathlon nicht alles in meinem Leben sein kann und dass es niemals eine Ersatzbeschäftigung für andere Defizite sein darf.
Ich danke dir, dass du bis hierhin gelesen hast.
Liebe Grüße, Carmen